Unter „Nullzeit“ versteht man in der Tauchersprache die Zeitspanne, die man unter Wasser bleiben kann, ohne dass bei einem plötzlichen Auftauchen Gesundheitsschäden zu befürchten sind. Also ein Begriff, der sich als Metapher geradezu anbietet: wie lange kann ein Paar in der eigenen emotionalen Hochdruckzone seinen Privatwahnsinn treiben, ohne dass eine Rückkehr für die beiden in eine normales Leben unmöglich wird?
Theo und Jola sind ein solches Paar, bei dem der Leser von Anfang an befürchtet, dass sie den Nullpunkt schon längst überschritten haben. Sie, eine bildschöne Schauspielerin aus bestem Hause auf der Suche nach dem endgültigen Durchbruch in der Rolle der Lotte Hass – er, zwölf Jahre älter, ein larmoyanter und wenig erfolgreicher Schriftsteller, haben sich seelisch und sozial derart ineinander verheddert, dass sie für ihre Umwelt unberechenbar werden. Gesten extremer Anhänglichkeit und Verliebtheit folgen auf Kälte, Herabsetzungen („der alte Mann“) und körperliche Attacken – und umgekehrt.
Die soziale Umwelt bilden im vorliegenden Buch der Tauchlehrer Sven und seine Lebensgefährtin Antje, zwei Aussteiger, die auf einer nicht genannten Insel ( es handelt sich um Lanzarote) eine Tauchschule betreiben und bei denen Theo und Jola einen exklusiven und sehr kostspieligen Tauchurlaub gebucht haben. Die Beziehung von Sven und Antje ist stabil, aber langweilig, eine bessere Kameradschaft, ein störungsfreies und dauerhaftes Einvernehmen, das nur pro forma als „Liebe“ bezeichnet wird. Kein Wunder, dass der gut gebaute Sven bei aller Kritik am Verhalten von Theo und Jola von Anfang an ein besonderes Auge auf die schöne Jola wirft.
Erzählt wird die Geschichte aus zwei Perspektiven – mal von Sven, mal von Jola in ihren Tagebüchern – allerdings so unterschiedlich, so dass der Leser über die Triebkräfte der Handlung lange im Unklaren bleibt.
Eines aber ist klar: Der Inselaufenthalt von Jola und Theo steht im Zeichen einer sich anbahnenden Beziehungskatastrophe. Theo und Jola verhalten sich von Tag zu Tag unberechenbarer, und schnell gerät auch der Tauchlehrer Sven in den Bannkreis des verrückten Paares. Der zunächst so gelassene Aussteiger verwandelt sich in einen Gehetzten, der sich davor fürchtet, mit Jola in eindeutigen Posen gesehen zu werden, in einen Spanner, der seine Gäste in der Nacht beobachtet und in einen Masturbator, der sich während der Laptopaufzeichnungen von Jolas Filmen einen herunter holt.
Am Ende kulminieren die Ereignisse im Rahmen eins lange geplanten Tauchganges an Svens vierzigstem Geburtstag. Wie, soll an dieser Stelle natürlich nicht verraten werden, wenngleich die Logik der Auflösung gegenüber dem Gesamtniveau des Buches ein wenig abfällt. Aber was soll man meckern? Neben all dem hypermodernen und ambitionierten Schmus, den man heute von jungen Autoren lesen muss, ist Julie Zeh ein gut zu lesender und handwerklich erstklassig ausgearbeiteter Beziehungskrimi gelungen, den man im Rahmen eines Strand- oder Tauchurlaubes auf den Kanaren durchaus empfehlen kann. Wahrscheinlich hat die Autorin sogar absichtlich auf zu schwere Bleigewichte der Bedeutung verzichtet, damit das Buch jene scheinbare Öberflächlichkeit erlangen kann, die Lesbarkeit und Verkaufserfolg zugleich garantieren. Gut gemacht, Julie!