Marias: Mein Herz so weiß

41PVgdNX+NL._SX327_BO1,204,203,200_Zahlreiche Verlage in Deutschland haben eine Übersetzung dieses Werkes von Marias zunächst abgelehnt, und wer die ersten fünfzig oder sechzig Seiten des vorliegenden Werkes liest, kann auch sehr gut verstehen, warum. Das Buch beginnt zwar mit einer starken Szene, die sich später als Klammer des ganzen Werkes erweisen wird, es wird aber zunächst in einer derart unpoetisch-protokollartigen Sprache erzählt, das ich jeden verstehen kann, der das Buch zur Seite legt. Auch die seitenweise eingeschobenen, oft recht langatmigen Reflektionen tragen nicht dazu bei, den Leser bei der Stange zu halten ( Hier kann der Autor, der zweimal Milan Kundaera abwertend erwähnt, von dem Tschechen durchaus noch was lernen ). Und welche inhaltliche oder poethologische Funktion  die mitunter halbseitenlangen Klammereinschübe haben sollen, wird wohl nur der Autor wissen.

So weit so kritisch. Doch ab etwa Seite siebzig ändert sich das Buch. Eine köstliche Miniatur über einen Schabernack, den sich die dolmetschende Hauptfigur Juan mit dem spanischen Ministerpräsidenten und der englischen Premierministerin ( unschwer als Maggie Thatcher zu erkennen ) erlaubt, bringt den Leser laut zu lachen. Mit der Einführung der Vatergestalt Ranz, der zweiten Hauptperson des Romans, gewinnt das Buch auch psychologisch und erzählerisch an Fahrt. Wie bei einem Bergsteiger, der am Beginn seines Aufstieges auch noch keinen Eindruck von der Topologie des Gesamtmassivs besitzt, schälen sich auch für den Leser, je weiter er mit der Lektüre voranschreitet, die Grundkonturen erst langsam, dann aber immer deutlicher heraus. Schließlich erkennt man, dass der rätselhafte Tod Theresas am Anfang des Romans, die Geschichte der Miriam in Havanna und der unglücklichen Beth in New York, die drei Ehen des Vaters wie auch die gerade erst geschlossene Ehe des Protagonisten Juan kunstvoll verschachtelten Ausläufern und Hügeln gleichen, die jeder für sich einen originellen Zugang zum Themenkosmos  des Werkes erlauben, der um Liebe, Beständigkeit und Schuld, aber auch um Zuhören, Erzählen und Schweigen kreist. Wenn man am Ende des Buches das ganze thematische Massiv überschaut, ist man beeindruckt und geneigt, den Autor für manchen stillen Fluch um Vergebung zu bitten. Ich weiß zwar noch immer nicht, ob die ganzen Klammereinschübe und thematischen Exkurse wirklich notwendig waren, verbeuge mich aber trotzdem vor dem Meister, dem es gelingt, nach einem sehr harzigen Start die vielen Fäden seines Werkes zu einem beeindruckenden Ganzen zusammenzufügen. Alles in allem tatsächlich ein anspruchsvolles Buch im wahrsten Sinne des Wortes. Um bei der Bergsteigermetaphorik zu bleiben – hier muss man als Leser mit Eisen und Haken in die Wand, wird aber am Gipfel durch eine beeindruckende Gesamtschau belohnt.

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